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Die Philosophie der Zukunft – Lenzerheide

Einerseits Der Wille zur Machtsieht es Nietzsche als vordringliche Aufgabe an, seinem Werk eine feste, Missverständnisse vermeidende, Gestalt zu verleihen. Gleichzeitig bereitet er im Geheimen eine neue Philosophie vor, deren Bruchstücke wir nur unter dem Titel 'Wille zur Macht' kennen und die er als Überwindung der bisherigen Philosophie verstanden wissen wollte. Daß dieser Gedanke eines geplanten Hauptwerkes, dem Nietzsche nur den Arbeitstitel 'Wille zur Macht' gegeben hatte, später von der Schwester in dieser verfälschten und verhängnisvollen Form umgesetzt wurde, ist nur eine der vielen Infamitäten der Schwester. Dies besonders, wenn man weiß, wie Nietzsches prozesshaftes Arbeiten vor sich ging. Niemals hätte Nietzsche die Auswahl, die seine dummedreiste Schwester willkürlich traf, gestattet.

Alle noch von Nietzsche vor seinem Zusammenbruch geschaffenen Werke dienen demnach einem doppelten Zweck - Sicherung und Überwindung. Nietzsche verfolgt eine paradoxe Strategie, indem er sein bisheriges Schaffen als ein sinnvolles Ganzes ordnen muß und dann dieses Werk als Ballast abwirft, um die Philosophie der Zukunft überhaupt erst denken zu können. Seine Werke wirken also dadurch, daß sie der, welcher sie versteht, am Ende als unsinnig erkennt, wenn er durch sie - auf ihnen - über sie hinaufgestiegen ist. Er muß sozusagen die Leiter wegwerfen, nachdem er auf ihr hinaufgestiegen ist. Er muß Nietzsches Gedanken überwinden, um Nietzsches denkerisches leitmotiv zu erfüllen: "Werde, der du bist."

Im Sommer 1885 in Sils Maria beginnt er mit den Notizen für ein neues WerkJenseits von Gut und Bösegleichzeitig plant er die Neuauflage von 'Menschliches-Allzumenschliches' und schreibt für dieses Werk ein neues Vorwort. Den Winter darauf verbringt Nietzsche in Nizza. Hier entsteht schließlich sein Buch 'Jenseits von Gut und Böse - Vorspiel einer Philosophie der Zukunft'. Zunächst beabsichtigt er, diesen Band als Fortsetzung zur 'Morgenröthe' zu publizieren. Er verwendet für dieses Buch (das er trotz intensiver Bemühungen bei keinem Verlag unterbringen kann und wieder bei Naumann auf eigene Kosten veröffentlichen muß) viele Gedanken aus früheren Notizheften, gleichzeitig radikalisiert er verschiedene Themenstellungen. Er stellt neue Fragen, er durchwühlt gleichsam wie ein Maulwurf den Boden unsere Kultur. Nietzsche nimmt die Aufgabe des Philosophen ernst, indem er bodenlos weiterfragt und jetzt tatsächlich in ein Gebiet jenseits aller Denk- und vor allem Moralgrenzen aufsteigt. Seine Gedanken bewegen sich nun in Bahnen, die tatsächlich die Grundlagen der Philosophie der Zukunft bilden. Insofern ist der Untertitel, den Nietzsche dieser Sammlung von Gedanken gab, doppeldeutig zu verstehen - Nietzsche betreibt einerseits das Vorspiel seiner eigenen Philosophie der Zukunft und zugleich finden seine Gedanken tatsächlich bei uns ihr Nachspiel. Das erste Hauptstück mit dem Titel 'Von den Vorurtheilen der Philosophen' sollte jeder Denker der Gegenwart gelesen haben. Diese Gedanken stellen die beste und schonungsloseste philosophische Propädeutik dar, die je geschrieben wurde: "Der Wille zur Wahrheit, der uns noch zu manchem Wagnisse verführen will, jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bisher mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt. Welche wunderlichen schlimmen fragwürdigen Fragen! (...) Wer ist das eigentlich, der uns hier Fragen stellt? Was in uns will eigentlich 'zur Wahrheit'? (...) Wir fragten nach dem Werthe dieses Willens. Gesetzt, wir wollen Wahrheit: warum nicht lieber Unwahrheit? Und Ungewissheit? Selbst Unwissenheit? - das Problem vom Werthe der Wahrheit trat vor uns hin, oder waren wir´s, die vor das Problem traten?" An dieser zentralen Stelle taucht schon das Problem der Wertsetzung auf, das Nietzsche dann von allen Seiten beleuchten wird. Was hier im Bereich der Der Europäische NihilismusPhilosophen fragwürdig gemacht wird, diese Fragestellung dehnt Nietzsche dann auf die ganze Kultur aus. Die tiefgreifende Analyse des Nihilismus folgt zwangsläufig aus diesen Gedanken. Hier knüpft Nietzsche an seine 1873 geschriebene und erst aus dem Nachlass veröffentlichte Frühschrift 'Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne' an, doch die Analyse des Nihilismus endet jetzt nicht mehr in einer skeptisch - resignativen Haltung, sondern der erkannte Nihilismus gilt ihm jetzt als die Durchgangsstation zu einem großen Ja zum Leben. Nietzsche unterscheidet in seinen Aufzeichnungen zwei Formen des Nihilismus: einen passiven, dekadenten, philiströsen, die Lebensfunktionen des Menschen lähmenden Nihilismus und einen aktiven, individuell durchlittenen, stark machenden Nihilismus. Der Negative verkleidet sich gewitzt in Religion, Metaphysik, Moral, Mittelmäßigkeit, Idealismus, Pessimismus - der positive Nihilismus mündet in der bejahenden Anerkennung des Willens zur Macht. Das Programm muß folgerichtig die Umwertung aller Werte sein. Alles ist falsch - ein Betrug und Selbstbetrug. Nietzsche beschreibt eine europäische Kultur, die sich in ihren Werten erhaben dünkt, aber verfault und krank bis ins Mark ist, eben decadent. Die Kernthesen dieser Überlegungen formuliert Nietzsche Mitte Juni 1887 während eines Kurzbesuchs in Lenzerheide. Hier schreibt er am 10. Juni die berühmten Fragmente 'Der europäische Nihilismus' - generell empfiehlt sich unbedingt die genaue Lektüre Sören Kierkegaard - Karikaturder Fragmente der Jahre 1886 / 1887, um die zentrale Bedeutung des Begriffes Nihilismus für Nietzsches kritische Philosophie auszuloten. Man kann Nietzsche gleichsam beim Denken zusehen - ständig tauchen neue Buchpläne mit Inhaltsangaben, Kapiteleinteilungen, Unterkapiteln auf. Argumente und Gedanken werden gewogen, für zu leicht befunden, neu bewertet und immer wieder aus neuen Blickwinkeln beleuchtet. Dabei ist Nietzsche keiner von jenen Kulturkritikern, die sich immer wieder auf ihn berufen, sondern ihm geht es darum, herauszufinden, was die philosophischen Wurzeln und Folgen unseres falschen Selbstverständnisses in allen Bereichen sind. Nietzsche durchschaut mehr als fast alle seiner Zeitgenossen (abgerechnet Kierkegaard, den Nietzsche noch kurz vor seiner Umnachtung studieren wollte und Dostojewskij, den er ja als eine seiner entscheidenden Lektüreerlebnisse hervorhebt) den Zweck aller Ideologien. Und das 19. Jahrhundert ist die Geburtsstunde der Ideologien der Neuzeit - hinter allen Ideologien grinst aber nur ein unverarbeiteter kollektiver Nihilismus hervor. Wenn Nietzsche von der 'großen Politik' spricht, die im nächsten Jahrhundert zwangsläufig kommen muß, so denkt er seine Ideologiekritik zuende - eine Massengesellschaft, deren Wesen der verdrängte Nihilismus ist, ist zuletzt haltlos und zu allem fähig. Nietzsche durchschaut den Mechanismus der Ideologien als Ersatzreligionen der Schwachen, die dem aktiven und individuellen Nihilismus nicht gewachsen sind. Gleich dem Christentum sind alle Ideologien nur Zeichen der Schwäche - am Unnatürlichsten ist schließlich die materialistische Ideologie des Glückes, die den Schwachen in reinster Form hervorbringt, den von Nietzsche schon in der Vorrede des 'Zarathustra' beschriebenen 'letzten Menschen', dem es nur noch um private Sekurität geht. Sallust, einer der Lieblingsschriftsteller Nietzsches schreibt fast 2000 Jahre vorher folgende Worte am Beginn der 'Verschwörung des Catilina': "Alle Menschen, die danach streben, die übrigen Lebewesen zu übertreffen, sollen sich mit höchster Kraft bemühen, ihr Leben nicht unbeachtet zu verbringen, so wie das Vieh, das die Natur gebückt und nur dem Bauch gehorchend geschaffen hat. Aber unsere ganze Kraft ist im Geist und im Körper gelegen: wir gebrauchen mehr der Herrschaft des Geistes und der Knechtschaft des Körpers; der eine ist uns mit den Göttern, der andere ist uns mit den Tieren gemeinsam." Auch Machiavelli, den Theoretiker eines vitalen, lebenszugewandten politischen Lebens, studiert Nietzsche intensiv in dieser Epoche - den idealisierten Ranaissancetypus des Cesare Borgia lernt er kennen und erwähnt diesen mehrfach in seinen folgenden Schriften. Nietzsche verkauft von 'Jenseits von Gut und Böse' zu Lebzeiten gerade 114 Exemplare - trotzdem es umfangreich rezensiert wird, denn Nietzsche hatte seinen Buchdrucker Naumann angewiesen, fast 40 Exemplare an ausgewählte Zeitungsredaktionen zu senden.

Ab Sommer 1886, nachdem der Verleger Fritzsch die alten Bestände der Bücher Nietzsches von Schmeitzner erworben hatGenealogie der Moral, geht Nietzsche trotzdem daran, seine alten Werke wieder neu aufzulegen. Hierfür schreibt er erklärende Vorworte. Bis Sommer 1887 erscheint sowohl 'Menschliches-Allzumenschliches', 'Die Geburt der Tragödie...' als auch 'Die Fröhlichen Wissenschaft' und die 'Morgenröthe' auf Grundlage der übriggebliebenen Druckbogen neu. 'Der Fröhlichen Wissenschaft' fügt er einen Anhang 'Liedern des Prinzen Vogelfrei' bei; dazu kommt, daß die drei schon veröffentlichten Teile des 'Zarathustra' endlich in einem Band erscheinen. Bereits im Sommer 1887 beendet Nietzsche ein weiteres eigenständiges Werk. 'Die Genealogie der Moral' nimmt die Analysen aus 'Jenseits von Gut und Böse' auf, verschärft und variiert jedoch die Argumente und Thesen. Nietzsche selbst sieht dieses Werk als Fortsetzung. In einem Brief an seinen Verleger Naumann schreibt Nietzsche am 17. Juli 1887: "Meine Bitte ist, den Druck derselben umgehend zu beginnen; Ausstattung, Typen, Papier, Zahl der Exemplare - Alles exakt wie bei 'Jenseits': so daß diese Abhandlung wirklich als Fortsetzung von jenem 'Jenseits' auch äußerlich sich ausnimmt." Schon der Untertitel 'Eine Streitschrift' deutet dabei an, daß Nietzsche nun direkter und ungeduldiger die totale Umwertung vorbereitet.

Am Ende der Einleitung gibt er seinen zukünftigen Lesern gleichsam eine Gebrauchsanweisung, Platonwie er gelesen werden will: "Ein Aphorismus, rechtschaffen geprägt und ausgegossen, ist damit, dass er abgelesen ist, noch nicht "entziffert"; vielmehr hat nun erst dessen Auslegung zu beginnen, zu der es einer Kunst der Auslegung bedarf. (...) Freilich thut, um dergestalt das Lesen als Kunst zu üben, Eins vor Allem Noth, was heutzutage gerade am Besten verlernt worden ist - und darum hat es noch Zeit bis zur "Lesbarkeit" meiner Schriften - zu dem man beinahe Kuh und jedenfalls nicht "moderner Mensch" sein muss: das Wiederkäuen..." Nietzsche bahnt mit dieser Kampfschrift den Großangriff auf die Wurzel der Gesellschaft an - den platonischen Idealismus und dessen religiöse pöbelhafte Variante: das Christentum. Nietzsche geht den anscheinend so selbstverständlichen Begriffen wie gut, böse, asketische Ideale, Gewissen, Schuld auf den Grund. Was bedeuten diese Begriffe, welche Motive und Mächte verstecken sich hinter diesen Vorstellungen? Was machen diese Vorstellungen aus dem Menschen - welche Menschen setzen solche Ideale in den Umlauf? Zuletzt geht es um die Entlarvung der wahren Motive der Philosophen Sokrates - Platon und der Religionsstifter Jesus - Paulus.

Im Herbst 1887 kommt es schließlich noch zu einer kuriosen Veröffentlichung Nietzsches, die auf den ersten Blick wenig mit Nietzsches philosophischen Bemühungen zu tun hat und gleichsam wie ein Spott und Trotz auf die Erfolglosigkeit, Krankheit und Einsamkeit erscheint. Nietzsche läßt den Helfer und erfolglosen Komponisten Köselitz seine 1882 in Tautenburg geschriebene Liedkomposition, der das Paul Deussen mit Frau Marie'Gebet an das Leben' von Lou Salomé zugrunde lag, für gemischten Chor und Orchester umarbeiten. Dieses Werk erscheint unter Nietzsches Namen als 'Hymnus auf das Leben'. In einem Begleitschreiben an Hans von Bülow vom 22. Oktober 1887 aus Venedig beschreibt Nietzsche den Zweck dieser Publikation: "Er soll einmal, in irgend welcher nahen oder fernen Zukunft, zu meinem Gedächtnisse gesungen werden, zum Gedächtnisse eines Philosophen, der keine Gegenwart gehabt hat und eigentlich nicht einmal haben wollen." Es verbietet sich alles klügelnde Psychologisieren, aber schon in dieser Veröffentlichung scheint sich sich die kommende Krankheit ankündigen - das extreme Pendeln zwischen euphorischen und depressiven Zuständen, wie es für die Paralyse typisch ist. Einen traurigen und authentischen Bericht über Nietzsches Zustand gibt Paul Deussen, einer seiner ältesten Freunde noch aus Portenser Schülertagen, der ihn im Sommer 1887 in Sils mit seiner Frau besucht: "An einem schönen Herbstmorgen stieg ich mit meiner Frau, von Chiavenna kommend, über den Majolapaß, und bald lag Sils-Maria vor uns, wo ich mit klopfendem Herzen dem Freund entgegentrat und ihn nach vierzehnjähriger Trennung tief bewegt umarmte. Aber welche Veränderung waren in dieser Zeit mit ihm vorgegangen. Das war nicht mehr die stolze Haltung, der elastische Gang, die fließende Rede von ehedem. Nur mühsam und etwas nach der Seite hängend, schien er sich zu schleppen, und seine Rede wurde öfter schwerfällig und stockend (...) Am nächsten Morgen führte er mich in seine Wohnung, oder, wie er sagte, in seine Höhle. Es war eine einfache Stube in einem Bauernhause, drei Minuten von der Landstraße (...) Nachmittags brachen wir auf, und Nietzsche gab uns das Geleite bis zum nächsten Dorfe, eine Stunde thalabwärts. Hier sprach er nochmals die düstren Ahnungen aus, welche sich leider so bald erfüllen sollten. Als wir Abschied nahmen, standen ihm die Thränen in den Augen, was ich früher nie an ihm gesehen hatte. Ich sollte ihn nicht mehr mit klaren Bewusstsein wiedersehen."

Kurze Zeit später bricht er mit seinem einstigen Studienfreund Erwin Rohde. In Nietzsches letztem Brief an diesen Freund öffnet Nietzsche mit wenigen Worten seine Seele: "Aufrichtig Du hast mir nie ein Wort gesagt, das mir zu vermuthen erlaubte, Du wüsstest, welches Schicksal auf mir liegt. Habe ich Dir je daraus einen Vorwurf gemacht? Nicht einmal in meinem Herzen; und sei es auch nur deshalb, weil ich es überhaupt von Niemandem anders gewohnt bin. (...) Ich habe jetzt 43 Jahre hinter mir und bin genau noch so allein, wie ich es als Kind gewesen bin." Es scheint, als würde Nietzsche merken, daß ihm nur noch wenig Zeit bleibt und er deshalb gleichsam reinen Tisch machen muß. Seine Aggressivität und Radikalität erklärt sich nur aus diesem Moment der Vorahnung. Der Schaffensdrang des letzten Jahres bleibt trotzdem unerklärlich. Bevor Friedrich Nietzsche vollkommen in den ersten Januartagen 1889 in Turin verstummt, hat Nietzsche die Welt vielleicht schon verlassen: "Ich verstumme unwillkürlich gegen Jedermann, weil ich immer weniger Lust habe, Jemand in die Schwierigkeiten meiner Existenz blicken zu lassen. Es ist wirklich sehr leer um mich geworden."



Schule von Athen


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