Ecce Homo

Der Aufstieg

Kindheit

Herkunft

Röcken

Frühe Kindheit

Schulzeit

Studium

Professur

Der Wanderer

Heimatlos

Lou

Zarathustra

Die Umwerthung

Finale

Der Untergang

Siechthum

Tod

 

Frühe Kindheit

Anfang April 1850 muß die Familie Nietzsche das Pfarrhaus in Röcken räumen. Die erste Bleibe in Naumburg, wohin man auf Anraten der Großmutter Erdmuthe zieht, ist eine kleine Wohnung in der Neugasse im Hause des Eisenbahnspediteurs Otto. Naumburger NeugasseHier wohnt die Familie Nietzsche bis 1856. Als innerhalb kurzer Zeit hintereinander Tante Auguste (Sommer 1855) und Großmutter Erdmuthe (April 1856) sterben, wird Franziska durch eine kleine Erbschaft unabhängig und sie bezieht mit den Kindern Friedrich, Elisabeth und dem Dienstmädchen Mine eine eigene Wohnung hinter der Marienmauer bei der befreundeten Pastorin Harseim. Zwei Jahr später, im Sommer 1858 schließlich, zieht die Familie in das Haus Weingarten 18, welches die Mutter später erwerben konnte und im dem sie bis zum Ende ihres Leben lebte.

Friedrich selbst beschreibt die Übersiedlung vom Land in die Stadt Naumburg mit kindlicher Verwirrung: "Die großen Kirchen und Gebäude, der Marktplatz und Brunnen, die ungewohnte Marktplatz zu NaumburgMenge des Volkes erregte meine Bewunderung. Dann erstaunte ich, wie ich bemerkte, daß die Leute oft miteinander unbekannt waren; denn auf dem stillen Dorfe kannte sich jedermann". Friedrich findet in dieser neuen Umgebung nur schwer Kontakt. Er ist den Gleichaltrigen mit seinem distanzierten und frühreifen, neunmalklug wirkenden Verhalten fremd. Von seinen Mitschülern wird er als der 'kleine Pastor' verspottet. Nietzsche reagiert auf dieses Unverständnis schon als Kind auf zwei charakteristische Arten. Einmal entwickelt er schon jetzt eine Form des Pathos der Distanz, wenn er schreibt: "Von Kindheit an suchte ich die Einsamkeit und befand mich da am wohlsten, wo ich mich ungestört mir selbst überlassen konnte. Und dies war gewöhnlich im freien Tempel der Natur..." (das romantisch-pantheistische Motiv der Natur als nicht enttäuschende Zuflucht wird Nietzsche das ganze Leben begleiten).

Der zweite Ausweg ist das Eingehen von intensiven Freundschaften. Nietzsche beginnt schon früh Wilhelm Pindereine Art Freundschaftskult zu entwickeln. Grundlage der Freundschaften sind dabei immer ähnliche geistige Interessen oder Ideale (die institutionalisierte Freundschaft, die Studentenverbindung Franconia, verläßt Nietzsche bald, weil hier eben nur oberflächlich Zeit totgeschlagen wird). Seine beiden ersten Freunde sind Wilhelm Pinder und Gustav Krug. Rückblickend schreibt Nietzsche über seine beiden ersten Freunde: "Ja, es ist etwas Hohes, Edles, wahre Freunde zu haben und unser Leben ist von Gott bedeutend verschönert worden, daß er uns Mitgefährten gab, die mit uns dem Ziele zustreben. Und besonders ich muß Gott im Himmel dafür loben, da mir ohne diese in Naumburg vielleicht nie heimisch geworden wäre". Gemeinsam mit seinen Freunden besucht Friedrich Nietzsche die Knabenbürgerschule (ab Ostern 1850) am Topfmarkt direkt an der Wenzelskirche.

Die Liebe zur Musik und Dichtung ist das Band, das die Freunde aneinanderknüpft. Die Familien Krug und Pinder gehörten zur kulturellen Elite der Stadt Naumburg. Im Hause des Gustav KrugGerichtsrats Pinder findet Nietzsche eine große Bibliothek und im Vater seines Freundes so etwas wie eine Ersatzautorität, die ihn z.B. mit dem Werk Goethes vertraut macht. Pinder las so z.B. den Kindern die 'Löwennovelle' vor. In der Familie Krug pflegte man ein reiches Musikleben. So wurde intensiv Hausmusik gemacht, daneben verkehrten namhafte Musiker im Hause und Konzerte wurden gemeinsam besucht. So kauft die Mutter Nietzsches auch ein Klavier, nimmt selbst Unterricht bei einem alten Kantor, um ihrem Sohn die Anfangsgründe des Klaviers beizubringen - zu Weihnachten wünscht sich Friedrich häufig Noten. Welche Bedeutung die Musik hat, beweist der Traktat 'Über Musik' des Vierzehnjährigen: "Man muß alle Menschen, die sie verachten, als geistlose, den Tieren ähnliche Geschöpfe betrachten. Immer sei diese herrlichste Gabe Gottes meine Begleiterin auf meinem Lebenswege und ich kann mich glücklich preisen, sie lieb gewonnen zu haben. Ewigen Dank sei Gott von uns gesungen, der diesen schönen Genuß uns darbietet". Nietzsche nutzte das musikalische Angebot des Naumburger Kulturlebens in voller Breite.

Über ein Konzert, das er als Zehnjähriger hörte, schreibt Nietzsche: "Ich war an dem Himmelfahrtstage- (wohl 1854) in die Stadtkirche gegangen und hörte den erhabenen Chor aus dem Messias: das Hallelujah! Mir war, als sollte ich einstimmen, deuchte mir doch, es sei der Jubelgesang der Engel, unter dessen Brausen Jesus Christus gen Himmel führe. Alsbald faßte ich den ernsthaften Entschluß, etwas Ähnliches zu komponieren. Sogleich nach der Kirche ging ich auch ans Werk und freute mich kindlich über jeden Akkord, den ich erklingen ließ". Entscheidend an dieser kleinen Passage ist ein charakteristischer Aspekt: Friedrich Nietzsche genießt nicht passiv, sondern er muß unbedingt selbst produktiv werden. Das gilt bei Nietzsche sowohl für Musik als auch für die Dichtung. Nietzsche muß schreiben, um sich über sich selbst und die Welt klar zu werden. Anders aber als in der Dichtung zeigen seine jugendlichen Prosaversuche schon früh Originalität, Präzision der Beobachtung und analytische Kraft - man lese nur die autobiographischen Notizen eines Vierzehnjährigen.

Im Frühjahr 1851 verlassen die drei Freunde die Knabenbürgerschule und besuchen in Vorbereitung auf das Domgymnasium Dom in Naumburgbis zum Herbst 1854 das Privatinstitut des Kandidaten Weber. Hier erhalten sie einen ersten Unterricht in den alten Sprachen, es wird viel Religion unterrichtet. Daneben legt der Lehrer besonderen Wert auf die körperliche Gesundheit, die Weber durch ausgedehnte Wanderungen fördert. Im Oktober 1854 wechselt das Dreigespann an das Naumburger Domgymnasium, im Schatten des Naumburger Doms gelegen. Vier Jahre lang besucht Friedrich Nietzsche diese Schule. Die Aura der Einsamkeit und Auserwähltheit bestimmt seine Schulzeit. Ein Mitschüler, der spätere Professor Pitzker, berichtet, daß Nietzsche von seinen Mitschülern zugleich "bis zur Vergötterung" bewundert, doch zugleich aber auch als Sonderling geneckt worden sei.

Glücklich ist Nietzsche besonders in den Ferien bei der Verwandtschaft in Pobles oder in Teutschenthal. Dort kann er ganz seinen Interessen nachgehen und die Einsamkeit wird nicht als arrogantes Absondern verstanden. Nietzsche ist ein sehr guter Schüler und so führt seine außergewöhnliche Begabung schließlich dazu, daß er für einen Freiplatz an dem nahegelegenen Internat, der Königlichen Landesschule zu Pforta, vorgeschlagen wird. Am 5. Oktober, mit knapp vierzehn Jahren, beginnt für Friedrich Nietzsche, nun getrennt von seinen Freunden und der Familie, das neue Schuljahr in Pforta.

Die ersten Naumburger Jahre zeigen in nuce schon den ganzen Nietzsche: das Gefühl, auserwählt zu sein und die Last damit, Musik und Naturerlebnis als Lebensmittel, Freundschaftskult, Schreiben als entscheidendes Erkenntnismitel, der Wille, Kunst zu schaffen. Ein Wesenszug bleibt vollkommen im Verborgenen - nirgends ist von Widerspruch, Widerstand gegen Traditionen, Werte, Regeln zu lesen. Im Gegenteil, es gibt vielmehr eine für den Umwerter Nietzsche ganz paradoxe Anekdote: Wie die Schwester berichtet, war 'Fritzchen' im strömenden Regen nach dem Unterricht ruhig nach Hause geschritten, während seine Mitschüler naturgemäß nach Hause stürmten. Seine Mutter machte ihm Zeichen und rief ihm von weitem zu: "So lauf doch nur!" Der strömende Regen verhinderte, seine Antwort zu hören. Als ihn die Mutter darüber Vorwürfe machte, sagte Friedrich ernsthaft: "Aber, Mama, in den Schulgesetzen steht, die Knaben sollen beim Verlassen der Schule nicht springen und laufen, sondern ruhig und gesittet nach Hause gehen".


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